Während eines Spaziergangs in Odawara habe einen Jungen, den ich schon seit Langem kenne, wieder getroffen. Er trägt Brennholz und liest ein Buch. Er ist kein Mensch, er ist eine Statue.

Seine Statue ist ziemlich bekannt in Japan. Alle Japaner kennen ihn. Seine Statue hat einst in fast allen japanischen Gymnasien gestanden. Auch heute steht er noch in vielen japanischen Gymnasien. Z.B. gibt es in der Präfektur Kanagawa 868 Gymnasien von denen er bis heute in 144 von ihnen mit seinem Abbild vertreten ist. Die meisten Leute kennen ihn als Symbol des Fleißes aus Erzählungen von ihren Eltern oder aus Büchern. In meiner Kindheit sagten die Erwachsenen immer: „Kinder müssen ihn als Vorbild nehmen. Er ist so fleißig, dass er lernt, selbst während der Arbeitszeit.“ (Er war arm, deswegen musste er schon arbeiten, als er Kind war.) Ich war aber immer skeptisch gegenüber dieser komischen Statue, ob es wirklich ein gutes Vorbild ist. Eigentlich hat mir niemand erzählt, wie er groß wurde, nachdem er holztragend Bücher gelesen hatte, oder in welcher Epoche er gelebt hat. Alle Japaner kennen ihn, aber keiner weiß, was aus ihm geworden ist. Ein merkwürdiges Vorbild, von dem man eigentlich gar nichts weiß.

Das war meine Meinung über ihn, bis ich nach Odawara umgezogen bin. Erst hier habe ich erfahren, dass er aus Odawara kommt. Sein Name ist Kinjirou Ninomiya. Mein Leben hat sich mit seinem Leben wieder gekreuzt. Deshalb habe ich begonnen über ihn zu recherchieren. Überraschende Tatsache. Überrascht war ich auch, dass er eine große Persönlichkeit wurde. Ich bin davon sehr begeistert, was er geschaffen hat. Eigentlich sehr schade, dass er nur für eine fleißige Jugend bekannt ist. Der Grund warum sich die Statue in Japan so ausgebreitet hat, ist wegen der 2. Weltkriegspropaganda und des Geschäftsinteresses der Steinhändler.

Nun zur Geschichte von Kinjiro Ninomiyas Leben und seinem Erfolg.

Er wurde 1787, also in der Edo-Epoche, geboren. In der Edo-Epoche herrschte die Tokugawa- Familie 265 Jahre lang über Japan. Er arbeitete in dieser Zeit, also vor ca. 230 Jahren, basierend auf seiner eigenen Philosophie, als Berater. Seine Familie waren Reisbauern. Damit stand er praktisch ganz unten in der Hierarchie zu dieser Zeit. Samurais waren die obersten. Die Reisbauern mussten Reis als Grundsteuer zahlen. Aber mit der Zeit wurde er von den oberen Samurais in Odawara anerkannt und geachtet. Durch seine Beratungstätigkeit half er erst den Samurais und später den beherrschten Reisbauerndörfern wieder zu Wohlstand zu kommen.

Seine eigenartige Philosophie wurzelte in seiner harten Jugend. Seine Familie hatte über Generationen große Reisfelder. Aber schlechtes Wetter hatte alle Felder zerstört und große Hungersnot hervorgerufen. Auch sein Vater erkrankte aufgrund dieser Probleme. Der kleine Kinjirou musste statt ihm sehr viel arbeiten. Er wollte stets diesem harten Leben entfliehen. Der Arzt seines Vaters lehrte Kinjirou schon sehr früh, dass er Bücher lesen und lernen muss, um sein Leben verbessern zu können. Sein Vater hatte (für einen Reisbauern) viele Bücher gehabt. Kinjirou gewöhnte sich an, chinesische Werke von Konfuzius usw. zwischen Reisanbau und Haushaltsarbeit zu lesen.

Als sein Vater starb, verlor seine Familie alle Reisfelder. Einige Jahre später starb auch seine Mutter. Da war Kinjirou gerade erst 14 Jahre alt. Er wurde von Verwandten aufgenommen. Auch dort las er nach dem Arbeiten viele Bücher. Aber seine Verwandten verboten ihm das Licht zu benutzen. Licht war teuer. Deswegen kaufte er eine Handvoll Rapssamen. Er dachte sich, dass er vom Raps Öl für Licht gewinnen könnte. Aus einer Handvoll Rapssamen wurde im nächsten Jahr siebenmal mehr Raps. Er sammelte auch von anderen Bauern weggeworfene Reissamen und säte sie auf zerstörten Reisfeldern, auf denen Andere nicht mehr anbauen wollten, wieder an. Für Getreide, das auf zerstörten Feldern angebaut wurde, musste man für 7 Jahre keine Grundsteuer zahlen.

Er fing bei Null an, ohne Samen und ohne Grundbesitz. Aber sein Agrarfachwissen, gewonnen aus seinen Erfahrungen in seiner harten Jugend, halfen ihm. In einem Jahr konnte er 60 kg Reis ernten. Mit diesem Reis konnte er alle ehemaligen Reisfelder seiner Familie zurückkaufen. Die Familienehre war wieder hergestellt. Trotz dieser Arbeit wurde er 1,82 m groß und wog schließlich stattliche 94 kg. Eine seltene Erscheinung im Japan zu dieser Zeit.

Er besaß mit der Zeit mehrere Ländereien, welche ihm zunehmend Ruhm verschafften und zu einer Anstellung als Finanzberater der Familie des Samuraifürsten in Odawara führten. Ein ungewöhnlicher Sprung in der Hierarchie des damaligen Samuraiwesens. Er übernahm diese Arbeiten in der Hoffnung durch sein Wissen über das Leben der Samurais das der Bauern verbessern zu können. Bei der Samuraifamilie störte ihn die große Verschwendung von Ressourcen, was ihn veranlasste die Familie zu mehr Sparsamkeit zu überreden. Er gewann immer mehr Führungsfähigkeit und verstand die Leute auf seine Seite zu bringen. Großzügigkeit und Freude einen positiven Beitrag leisten zu können zeichneten ihn aus. In 5 Jahren gelang ihm die Verbesserung der Familienfinanzen des Samaraifürsten.

Durch seinen Erfolg wurde er direkt vom Samuraifürsten in Odawara mit dem Wiederaufbau eines Dorfs, das lange die Grundsteuer nicht gezahlt hatte, beauftragt. Er erkannte, dass die Erde zu unfruchtbar für die eingetriebene Grundsteuer war und deswegen die Bauern keine Lust mehr hatten, zu arbeiten. Zuerst schlug er dem Samuraifürsten vor, die Grundsteuer um 1/4 zu senken. Danach besuchte er die Dörfer jeden Tag um den Wiederaufbau voranzutreiben. Er gab Anweisungen zur Verbesserung des Reisanbaus und riet auch hier zu mehr Sparsamkeit. Zur Motivation der Bauern veranstaltete er eine öffentliche Auszeichnung für den Bauern mit dem größten Ertrag. In 10 Jahren wurde die so Ernte verdoppelt (von 54 Tonnen Reis auf 108 Tonnen).

Im Laufe seines Lebens half er noch vielen anderen Dörfern. Er wurde ein wahrhaft „großer“ Mann. Es ist wirklich schade, dass er heute nur für seine Statue bekannt ist. Für mich ist das ein weiterer Beweis dafür, dass es sich lohnt mehr über die eigene Geschichte zu lernen.